Konzertjahr 2017

Hommage an die Auferstehung Jesu Christi und Lob der Dreifaltigkeit – Notizen zu Joseph Haydns „Alleluja“-Symphonie (Hob. I:30) und Antonio Vivaldis „Gloria“ in D-Dur (RV 589)

Der zeitliche Abstand, in welchem Haydns 30. Symphonie und Vivaldis „Gloria“ (RV 589) entstanden sind, ist mit 40 bzw. 50 Jahren vergleichsweise gering. Da das Autograph Vivaldis (leider!) undatiert geblieben ist, muss offen bleiben, wann der Komponist die Arbeit an dieser „Gloria“-Vertonung abschloss. Die großzügige Zahlung von 50 Dukaten, die Vivaldi am 2. 6. 1715 in Anerkennung seiner kompositorischen Arbeit erhielt, ist als Indiz für die Datierung des „Gloria“ (RV 589) durchaus plausibel; aber auch der Auftrag an Vivaldi, im Jahr 1725 zur Hochzeit des französischen Königs Ludwig XV. ein „Gloria“ zu komponieren, kann mit einiger Wahrscheinlichkeit auf das hier in Rede stehende „Gloria“ bezogen werden (vgl. dazu Hartwig Bögels Erläuterungen auf den Seiten III und IV der „Gloria“-Ausgabe im Carus Verlag, Verlagsnummer 40.001). Dass Haydns „Alleluja“-Symphonie im Jahr 1765 zusammen mit den Symphonien 28, 29 und 31 vollendet wurde, ist aufgrund der von Haydn selbst datierten Autographe völlig unstrittig. Unabhängig davon, welcher Datierungsvariante man im Hinblick auf Vivaldi den Vorzug geben möchte, bleibt festzuhalten, dass das relativ kleine Zeitfenster von 1715 bzw. 1725 bis 1765 den Blick auf einen geradezu rasanten ‚Veränderungsschub‘ freigibt, der symptomatisch für die musikstilistische Vielfalt und Entwicklungsfähigkeit in den ‚mittleren Jahrzehnten‘ des 18. Jahrhunderts ist. Eine größere kompositorische Bandbreite ist kaum denkbar: Vivaldi, dem „alle affekt- und kontrastbetonenden Satzweisen der Neapolitaner wie auch der ‚offizielle‘ stile antico zur Verfügung [standen]“ (Bögel: a. a. O., S. IV), und der vier bzw. fünf Jahrzehnte später gerade einmal 33 Jahre alte Haydn, der mit frühklassischer Klarheit Themen und Strukturen entwickelt, die der im Entstehen begriffenen Sonatenhauptsatzform wichtige Impulse geben.

So kontrastreich auf der einen Seite die musikalisch-kompositorische Gestalt der 30. Haydn-Symphonie und des „Gloria“ (RV 589) ist, so stimmig und stringent ist die ‚theologische Sinnlinie‘, die beide Werke miteinander verbindet und die es nicht nur legitimiert, sondern sogar nahelegt, Vivaldis „Gloria“ in einem Konzert oder auf einem Tonträger zu Gehör zu bringen, nachdem die frühe Symphonie Haydns verklungen ist. Wie noch näher zu zeigen sein wird, stützt sich Haydn auf das gregorianische „Alleluja“ der österlichen Liturgie. Das faszinosum des Ostergeschehens ist – so zeigen es zahlreiche Stellen des Neuen Testaments in aller Deutlichkeit auf – eine sehr facettenreiche Inspirationsquelle für das Lob des dreieinigen Gottes, dem gläubige Christen seit Jahrhunderten huldigen, auch und nicht zuletzt mit den Worten des vermutlich zwischen 300 und 400 nach Christus entstandenen „Gloria“-Textes. Die Auferstehung Jesu ‚betrifft‘ nicht nur den Sohn Gottes, sondern in gleicher Weise auch den Vater und den Geist als die beiden anderen ‚Personen‘ der Gottheit; Jesus, „den er [Gott] auferweckt hat von den Toten“ (1. Thessalonicher 1, 10) „durch seinen Geist“ (vgl. Römer 8, 11), erlebt das Osterwunder also nicht nur als Individuum, sondern auch und vor allem als Teil der Trinität. Der Vater erweckt den Sohn durch die Kraft des Heiligen Geistes von den Toten, die Hypostasen der Dreifaltigkeit sind – um es auf eine profane sprachlich-grammatische Ebene herunterzubrechen – im Ostergeschehen ebenso untrennbar miteinander verwoben wie Subjekt, Objekt und ablativus instrumentalis in einem syntaktischen Kontext.

Aus den oben angedeuteten, „zahlreiche[-n Gotteslob-]Stellen des Neuen Testa-ments“ seien zwei herausgegriffen, die in besonderer Weise belegen, dass Ostern und „Gloria in excelsis Deo“ miteinander verschmelzen. Die beiden Loblieder des Apostels Paulus in den Briefen an die Kolosser und Philipper sind unverkennbar vom Ostergeschehen inspiriert: „Er ist der Anfang, der Erstgeborene von den Toten, damit er in allem der Erste sei.“ (Kolosser 1, 18) Der Philipperbrief betont den Zusammenhang zwischen Passion und Ostern, indem er die Erniedrigung des Mensch gewordenen und gekreuzigten Gottessohnes in einen kausalen Zusammenhang mit der Erhöhung durch die Auferstehung stellt: „Er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja bis zum Tode am Kreuz. Darum hat ihn auch Gott [durch die Kraft des Geistes bei der Auferstehung] erhöht und hat ihm einen Namen gegeben, der über alle Namen ist [...]“ (Philipper 2, 8 und 9, Hervorhebungen von mir)

Das österliche „Alleluja“ als Chiffre für Erhöhung - diese von Apostel Paulus inspirierte Idee gibt auch im Hinblick auf Haydns 30. Symphonie und ihren

1. Satz

wertvolle Denkanstöße. Zunächst sei das gregorianische „Alleluja“ der österlichen Liturgie zitiert (es erscheint als Nr. 175, 2 auch im katholischen „Gotteslob“ der Ausgabe des Jahres 2013):
Halleluja-Rufes
Abbildung dieses Halleluja-Rufes mit freundlicher Genehmigung des Notensatzstudios Nikolaus Veeser in Schallstadt.
Haydn vertraut dieses Thema in modifizierter Tonfolge zunächst den Mittelstimmen an (2. Oboe, 2. Geige und 2. Horn) und erhöht es um eine Quinte von F nach C. Auf diese Weise wird eine Tonlage und damit auch eine klangliche Helligkeit erreicht, die einer singenden Gemeinde und erst recht einer der Gregorianik verpflichteten Choralschola von Mönchen definitiv verschlossen ist. Als Vize-Kapellmeister in den Diensten des Fürsten Nikolaus I. Esterházy stehend, hat Haydn dieses Werk höchstwahrscheinlich nicht nur bei Hofe, sondern wegen seiner kirchlichen Themeninspiration auch in der Messe des Ostersonntags 1765 aufgeführt und damit dem sakralen Geschehen einen bis dato im wahrsten Sinne des Wortes ‚unerhörten‘ Glanz verliehen: So hoch und so festlich hell hatte die Esterházysche Hofgesellschaft das ehrwürdige gregorianische Thema noch nicht vernommen.

Um die frei ausschwingende mittelalterliche Tonvorlage in die frühklassische Taktbindung und Periodizität einzufügen, wählt Haydn in der 2. Geige folgende Themendaption:

Themendaption
Der in den Takten 3 und 4 wiederholte Themenkopf kontrahiert das erste und das dritte Alleluja: Die Töne 2-5 zitieren das erste Alleluja, die Töne 2-4 sowie 6 und 7 das dritte ohne die anticipatio der finalis. In der auftaktigen Achtelnote g‘ klingt be-reits die Unterquarte des zweiten Allelujas an, die in den Takten 5-7 – ohne den Sekundvorhalt des Originals – nicht weniger als fünfmal von den Hörnern gespielt wird, während die Töne d‘‘- e‘‘- d‘‘- c‘‘ der 2. Geige den Beginn des zweiten Alleluja in den Raum stellen.

Nach dieser kunstvollen Themenexposition leitet Haydn mit fanfarenartigen Einwürfen, virtuosen Läufen und einem durch Tonrepetitionen geprägten Motiv zum zweiten Thema in der Dominanttonart G-Dur über. Ein Blick auf das zweite Thema zeigt, dass die Sonatenhauptsatzform mit ihrem in späteren Zeiten so konstitutiven Themendualismus in dieser frühen Symphonie noch nicht endgültig ausgeprägt ist: Das zweite Thema erweist sich nicht als kontrastreicher ‚Gegenentwurf‘, sondern ‚nur‘ als Variante des ersten Themas, die jedoch den Gedanken der Erhöhung (s. o.) intensiviert. Nunmehr übernehmen neben den 2. Geigen auch die 1. Geigen die Themenentfaltung, so dass die Töne abermals um eine Quinte nach oben gerückt werden und noch mehr ‚strahlen‘. Neben dem Triller auf dem dritten Thementon besteht die Variantenbildung darin, dass die aufwärts gerichteten Thementöne 2-4 in Takt 22 sequenziert und damit unterstrichen werden. In den Takten 23 und 24 trübt sich das Thema in die Molldominante g-moll ein, um dann jedoch mit dreifach sequenziertem Themenkopf unaufhaltsam in die ‚Höhen‘ der dreigestrichenen Oktave aufzusteigen. Man assoziiert förmlich, dass nach der ,Trübsal der Passion' die ‚österliche Erhöhung' durch die unwiderstehliche Macht der Trinität folgt. - Wie eine weitere Bestätigung wirkt das dreifache Zitat der vier Töne des ersten Allelujas in den Takten 30-32. Die oktaviert spielenden Oboen werden von den 1. und 2. Geigen durch die Spitzentöne der Forte-Tremoli wirkungsvoll unterstützt und – wie könnte es anders sein? – mit einer Sequenz nach oben geführt. Die energiegeladene Aufwärtsbewegung mündet mit der Viertelpause auf der Zählzeit 4 des Taktes 32 symbolträchtig in der musikalisch-rhetorischen Figur der aposiopesis: Das Osterwunder erhöht zunächst Jesus selbst im wörtlichen Sinn zum „Erstgeborene[-n] von den Toten“ (s. o.; Kolosser 1, 18); der gläubige Christ schließlich fühlt sich in der Nachbetrachtung des Ostergeschehens im geistlichen Sinn zu einer neuen, hoffnungsvollen Sicht auf eschatologische Fragen erhoben und verstummt angesichts der trinitarischen Allmacht in kontemplativer Ehrfurcht.

Um nahtlos an das dominantisch geprägte zweite Thema anzuschließen, präsentiert der Beginn der Durchführung das erste Thema noch einmal in G-Dur (Takte 38-45). Mit der Modulation nach a-moll (Takt 46/47) beginnt die eigentliche thematische Arbeit. Haydn verwendet eine Absplitterung und reduziert das 1. Thema in den Violoncelli, Kontrabässen und Fagotti auf die Töne 1-4, in den Bratschen und Oboen gar auf die Töne 2-4, so dass ausschließlich nach oben gerichtete Quartsprünge und Sekundschritte als Themensegmentierung übrig bleiben, die der Durchführung eine machtvoll aufwärtsstrebende kinetische Energie und somit – theologisch formuliert – eine immense ‚österliche Kraft‘ verleihen. (Die drei auftaktigen Sechzehntelfiguren der Bratschen in den Takten 48, 50 und 52 fügen sich als Terzungen nahezu unhörbar in das virtuose Spiel der Geigen ein und fallen daher klanglich kaum ins Gewicht.) Interessanterweise erscheint der Kopf des ersten Themas in den Bratschen und Bässen siebenmal und in den Oboen dreimal. Es fällt schwer, dies für einen Zufall zu halten. Sicherlich kann man mit Claus Fischer und Trevor Pinnock im Blick auf Haydns Privatleben die Auffassung vertreten, dass der Komponist einen eher liberalen Katholizismus pflegte und deshalb allzu normative Forderungen wie etwa die Untersagung freimaurerischer Kontakte missachtete (vgl. Claus Fischer: Der Glaube mit dem Paukenschlag, Joseph Haydns Religiosität, Deutschlandradio Kultur, Beitrag vom 18. IV. 2009), gleichwohl steht außer Frage, dass Haydn bei aller kritischen Distanz zu manchen Anforderungen der katholischen Geistlichen prinzipiell „sehr religiös gesinnt [war]“ und seine kompositorische Arbeit betend unterstützte (so Haydns Biograph Georg August Griesinger im Jahr 1810, vgl. die zitierte Sendung des Deutschlandradios). Vor diesem Hintergrund darf zumindest die These formuliert werden, dass die sieben bzw. drei Themeneinsätze der Durchführung eine biblische Symbolik aufschimmern lassen. Die Zahl 7 erinnert unter anderem an die sieben Schöpfungstage und die sieben Bitten des Vaterunser. Die Zahl 3 verweist auf die drei biblisch belegten Sakramente (Wassertaufe, Geistestaufe und Abendmahl) sowie auf die Dreifaltigkeit selbst. Da die drei Oboeneinsätze eine Terz bzw. eine Dezime über den sieben Basseinsätzen gelagert sind, ersteht in der ‚synästhetischen Perspektive‘ des Glaubenden folgendes Bild: Die im Ostergeschehen den Tod besiegende und sich in den Sakramenten den Menschen schenkende Trinität waltet allmächtig und allliebend über der Erde, während der Mensch „unter dem Schirm des Höchsten“ (vgl. Psalm 91, 1) zwar als conditio humana noch an das ‚Zeitkorsett‘ der Tages- und Wochenrhythmen gebunden ist, jedoch im Gebet etwa des „Unser Vater“ über Zeit und Raum hinaus blicken kann.

Die Reprise (Takte 58-81) stabilisiert ihrem Wesen gemäß die Tonika C-Dur, doch nicht nur das: Das erste Thema verlagert sich aus den Mittelstimmen (s. o) nach oben und wird von den 1. Oboen und 1. Hörnern unüberhörbar in den Raum gestellt. Das bislang vor allem durch Transponierung, Sequenzierung und Themensegmentierung deutlich gewordenen Prinzip der Erhöhung setzt sich nun also auch beim 1. Thema im Bereich der Instrumentierung fort. (Wie gesehen, instrumentiert Haydn das 2. Thema in derselben, ‚erhöhenden‘ Weise; s. o.). Zugleich spielen die 1. und 2. Geigen im Wechsel mit den Bläsern rhythmisch doppelt diminuiert die Töne 2-4 des ersten Themas (Takt 59 und Takt 61, jeweils Zählzeit „2und“ und 3). Die einfache rhythmische Diminution erklang bereits in den Oboen und Violinen während der Schlussgruppe der Exposition (Takte 35f., jeweils Zählzeit 2 und 3). Wie zu zeigen sein wird, bilden diese und andere Varianten des Themenkopfs die motivische Klammer, die die drei Sätze der Symphonie zu einer besonderen Einheit verschmelzen lässt.

2. Satz

Der 2. Satz ist gewissermaßen ein ‚Flötenkonzert in der Symphonie‘, denn Haydn weist diesem Instrument eine Solo-Rolle zu, die spieltechnisch und thematisch sehr bemerkenswert ist. Strukturell ist das Andante eingebunden in eine A-B-A‘-Form, die sich an den Takten 1-29, 30-44 und 45-71 festmachen lässt. Das periodisch aufgebaute Eröffnungsthema wirkt in den Achtelnoten der Gegenphrase und Schlussphrase (Takte 3f. und 7f.) sehr gesanglich, die Phrase und die Phrasenwiederholung weisen mit ihrer punktierten Rhythmik einen eher schreitenden Charakter auf und durchmessen den Oktavraum d‘‘-d‘ von oben nach unten, so dass zunächst eine melodische Abwärtsbewegung entsteht. Die Flöte spinnt das Eröffnungsthema variierend fort und ersetzt unter anderem die ‚gesanglichen Achtel‘ durch perlende Zweiunddreißigstel-Figuren, die die konzertante Virtuosität des Formteils B bereits ‚aufblitzen‘ lassen. Ab dem Auftakt von Takt 13 kommt eine weitere Variante der schon erwähnten motivischen Klammer ins Spiel, so dass ein satzübergreifender Zusammenhang entsteht: Die Oboen geben dem 2. Satz mit der punktierten und rhythmisch doppelt diminuierten Themensegmentierung aus der Durchführung des 1. Satzes einen neuen und zugleich doch bekannten Impuls. Die stringente Auf–wärtsbewegung dieser Töne 2-4 des „Alleluja“-Themas wird wirkungsvoll unterstützt durch die von allen Streichern in Zweiunddreißigsteln nach oben gebrochenen Dreiklänge, zugleich aber noch ‚eingebremst‘ durch die markanten Oktavsprünge abwärts, die auf die Dreiklangsbrechungen folgen. Nach einem Instrumentierungswechsel in den Takten 18-21 (die Flöte übernimmt den Part der Streicher, die Geigen den Part der Oboen) erklingt der dritte und letzte Abschnitt des Teils A (Takte 21-29). Hier wird die Bewegungsrichtung des punktierten Eröffnungs-themas umgekehrt und vor allem von zwei zweitaktigen Phrasen auf eine sechstaktige(!) Einheit verlängert. Dieses ‚Zelebrieren‘ der Aufwärtsbewegung krönen die Oboen, die das satzübergreifende, dreitönige „Alleluja“-Segment mit dem Leitton cis‘‘ und der Oberoktave d‘‘ abrunden und somit einen klanglichen ‚Gegenentwurf‘ zur Satzeröffnung zeichnen: Aus der abwärts durchmessenen Oktave d‘‘ – d‘ wird die aufwärts durchschrittene Oktave d‘ – d‘‘. Diese Beobach-tungen gelten in gleicher Weise auch für den dritten und abschließenden Formteil A‘ des Andante, der sich nur durch kleinere Instrumentierungsvarianten und durch die Tonartendisposition vom Formteil A unterscheidet. (Der zweite und dritte Abschnitt des Formteils A‘ stehen nicht mehr in D-Dur, sondern in G-Dur, so dass die Oboen abschließend die Oktave g‘ – g‘‘ aufwärts durchschreiten.) Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Formteile A und A‘ nicht nur wegen des abermaligen „Alleluja“-Zitats einen ‚österlichen Charakter‘ aufweisen, sondern auch aufgrund der Tatsache, dass die anfängliche melodische Ausrichtung nach unten Schritt um Schritt von der ‚Auferstehungskraft‘ der melodischen Umkehrungen abgelöst wird.

Der Formteil B komprimiert die Intensität der 29 Takte des Formteils A bzw. der 27 Takte des Formteils A‘ auf 15 Takte; nach einer achttaktigen Variante des Eröff-nungsthemas in D-Dur und e-moll (Takte 30-37) brilliert die Flöte in konzertanter Weise mit virtuosen Zweiunddreißigstel-Figuren und erhebt sich geradezu schwerelos über die abwärts gerichteten Oktavsprünge der Streicher (Takte 37-44). Auch das ist ein ‚österliches Element‘: Die fallenden Oktaven sind nicht erst seit Johann Sebastian Bachs großartigem Orgelchoral „Ach wie nichtig, ach wie flüchtig“ (BWV 644) ein Symbol für die Endlichkeit menschlichen Lebens. Über der Macht des Todes steht jedoch der Triumph des Lebens in der Auferstehung Jesu, die sich in den vital umspielten, förmlich nach oben ‚geworfenen‘ e-moll-, a-moll-, D-Dur-, G-Dur-, C-Dur- und D-Dur-Dreiklängen der Solo-Flöte musikalisch Bahn zu brechen scheint.

3. Satz

Die „Alleluja“-Symphonie nimmt insofern eine Sonderstellung unter den 104 Symphonien von Joseph Haydn ein, als sie (wie ansonsten nur noch die 18. Symphonie) auf drei Sätze beschränkt ist. Im 3. Satz verschmelzen Menuett und das in anderen Symphonien eigenständige Schlussrondo zu einem rondoartigen „Tempo di Menuet“. Da eine Wiederholung des Menuetts bzw. des Refrains (Takte 1-32 und 71-115) zwischen den beiden Couplets (Takte 33-52 und 53-70) fehlt, ergibt sich anstelle der regulären Kettenrondoform A-B-A-C[...]-A die verknappte Form A-B-C-A. Dass Haydn in so auffälliger Weise die in 102(!) anderen Symphonien bevorzugte Viersätzigkeit zur Dreisätzigkeit reduziert, mag zum einen der Zeitnot geschuldet sein, der sich Haydn vermutlich gerade im Jahr 1765 ausgesetzt sah. (Zu den ohnehin schon sehr zahlreichen Kompositionsaufträgen, denen er seit 1761 als Vizekapellmeister der Familie Esterházy gerecht werden musste, traten in den Monaten vor dem Tod des fürstlichen Kapellmeisters Gregor Joseph Werner gewiss nicht wenige Vertretungsaufgaben, bis Haydn nach dem Ableben Werners [3. März 1766] seinen Amtsvorgänger beerbte und in der nunmehr erlangten Leitungsfunktion qua Delegation wieder größere Freiräume genießen konnte.) Zum anderen ist jedoch angesichts der ‚theologischen Einbettung‘ dieser Symphonie durchaus denkbar, dass die Drei–sätzigkeit dieser ‚Ostersymphonie‘ auch als subtile Huldigung der das Ostergeschehen durchwaltenden Dreifaltigkeit verstanden werden darf. Was auch immer die Ursache der Dreisätzigkeit ist – in der Partitur belegbar sind interessanterweise drei Kompositionsmerkmale, die das in den beiden voraufgegangenen Sätzen hörbar gewordene Prinzip der Erhöhung auch im 3. Satz spürbar machen:
  • Die elegant tänzelnden Linien des Menuetts werden im Mittelteil (Takte 9-20 bzw. 79-90) kontrastiert durch markante, stakkatierte Viertel, die in den Takten 15-18 bzw. 85-88 die Töne 2-4 des „Alleluja“-Themas zitieren und nach oben sequenzieren. Im Gegensatz zur Durchführung des 1. Satzes (der im 4/4-Takt steht) wirken diese drei aufwärts gerichteten Viertel im Schlusssatz fast noch gewichtiger, weil sie einen kompletten 3/4-Takt ausfüllen.
  • Sieht man von den ‚unvermeidbaren‘ Kadenzquinten und –oktaven einmal ab, so sind alle Figuren der Bratschen und Bässe, die sich im Couplet I mit den Flöten und Violinen zu einem ausdrucksstarken Duett vereinen, nach oben gerichtet.
  • Das a-moll-Couplet (Takte 53-70) erhält seine charakteristische Prägung durch ein Dreiton-Motiv, welches Haydn durch ein Forte nach vorangegangenem Piano ausdrücklich hervorgehoben wissen will. An den Stellen, an denen es dreimal nach oben sequenziert wird (Takte 61-63), fordert Haydn sogar ein Fortissimo. Dieses Dreitonmotiv ist nicht nur eine Variante des lombardischen Rhythmus, sondern auch eine rhythmische Diminution der Töne 2-4 des satzübergreifenden „Alleluja“-Themas.
Haydn schreibt zu Beginn des 1. Satzes ausdrücklich „In Nomine Domini [Patris et Filii et Spiritus Sancti]“, begleitet seine kompositorische Arbeit laut Aussagen von Zeitzeugen mit Gebet (s. o.) und notiert nach dem Schlussstrich der Symphonie „Laus Deo“. Haydn hätte dieses verbale Bekenntnis zur Trinität musikalisch kaum eindrucksvoller unterstreichen können als in der Vollendung der 30. Symphonie, die als Hommage an die Auferstehung Jesu Religiosität und kompositorische Kunst in unverwechselbarer Weise vereint.

Antonio Vivaldis "Gloria" in D-Dur (RV 589)

Wie bereits gesehen, stehen das Ostergeschehen und das Lob der Trinität in einem engen Zusammenhang (s. o.). Antonio Vivaldis „Gloria“ in D-Dur (RV 589) ist also sowohl in einem Konzert als auf einem Tonträger eine theologisch stimmige ‚Antwort‘ auf Haydns 30. Symphonie. Vivaldis groß angelegtes Lob der Dreifaltigkeit Gottes ist kein Fragment einer zusammenhängenden Messvertonung, deren Kyrie, Credo, Sanctus usw. verschollen sind, sondern eine eigenständige Komposition im Stil der Missa Concertata. Das Nomen und das Adjektiv dieser Gattungsbezeichnung verweisen auf zwei Besonderheiten der Vita Vivaldis. Vivaldi war nicht nur ein hervorragender Musiker, sondern wurde 1703 in Venedig auch zum Priester geweiht. Allerdings war es ihm nur rund eineinhalb Jahre möglich, als Priester eine „Missa“ zu lesen und vor allem die Messgesänge anzustimmen, weil ihn gesundheitliche Probleme (er litt vermutlich an Asthma) zur Aufgabe dieser Tätigkeit zwangen. Wie zu zeigen sein wird, ‚predigt‘ Vivaldi jedoch gerade im „Gloria“ (RV 589) auf einer anderen Ebene weiter und macht seinem auf seine roten Haare anspielenden Beinamen „il Prete Rosso“ („der rote Priester“) musikalisch alle Ehre. „Concertata“: Da eine konventionelle Priestertätigkeit an der venezianischen Kirche S. Maria della Pietà nicht mehr realisierbar war, fand Vivaldi im „Ospedale della Pietà“ (einem dieser Kirche angegliederten Waisenhaus für Mädchen) einen neuen Tätigkeitsschwerpunkt. Er ermöglichte den Waisenmädchen eine umfassende musikalische Ausbildung und erntete mit dem Orchester des Ospedale in zahlreichen Konzerten die Früchte der intensiven Studien, wobei die Eintrittsgelder der im Laufe der Zeit berühmt gewordenen Konzerte in nicht unerheblicher Weise zum pekuniären Erhalt des Waisenhauses beitrugen. Das hohe Niveau des Orchesters und die solistisch-konzertante Kompetenz einzelner Musikerinnen haben nicht zuletzt im „Gloria“ (RV 589) ihre Spuren hinterlassen.
Es würde den Rahmen dieses Textes sprengen, wenn man alle zwölf Abschnitte des „Gloria“ einzeln würdigen und analysieren wollte. Stattdessen mag es im Sinne des Themas „Lob der Dreifaltigkeit“ genügen, einige Gedanken zur kompositorischen Glorifizierung von Vater, Sohn und Heiligem Geist zu entwickeln.

Vater:

Durch die Helligkeit und ‚Strahlkraft‘ der Trompete und der Oboe verstärkt, beginnt das Streichorchester mit einem ebenso beeindruckenden wie einprägsamen Ritornell in D-Dur (Takte 1-17). D-Dur ist in der Tat „a brilliant and majestic key“ (Joo Yeon Hwang: Analysis and Rehearsal Consideration on Antonio Vivaldi’s Gloria – RV 589, Kansas State University, Manhattan, Kansas 2012, S. 10). Das, was Hwang zur Tonart sagt, gilt für das ganze Ritornell: Brillant sind die ‘glitzernden’ Sechzehntel der Trompete, der Oboe und der Geigen, majestätisch die charakteristischen Oktavsprünge der Bässe (achtmal sogar im Unisono an den Diskant gekoppelt), die an das respektgebietende Pochen eines Herrscherstabes erinnern, gleichsam als ob ein Regent mit seinem Zepter vor einer ‚königlichen Verlautbarung‘ die Ruhe des Auditoriums einfordert. Die auf diese Weise angekündigte ‚Botschaft‘ wird ab Takt 17 durch den Chor in das musikalische Ge-schehen eingebracht. Der Chor übernimmt in der „Concerto grosso-Manier“ des Eröffnungssatzes (Bögel: a. a. O.: S. IV) strukturell fast die Rollo des Concertinos, welches mit dem Ripieno aus Trompete, Oboe, Streichern und Basso continuo einen kompositorisch inspirierenden Dialog führt. Der von Bögel verwendete Begriff der „Concerto grosso-Manier“ ist jedoch insofern nicht ganz stimmig, als der Chor im Gegensatz zum Concertino eines Concerto grosso nie ohne das Ripieno in Erscheinung tritt. Im Hinblick auf die Takte 21-24 vertritt Hwang die plausible Auffassung, dass die halben Noten des Chores im Verhältnis zu anderen Stellen und damit auch den Achteln der Ripieno-Begleitung besonders lang wirken, „as if it is symbolic of the long distance between God and his people“ (Hwang: a. a. O.: S. 10). Abgesehen davon, dass Hwang die Takte 25-27, 32-35 und leider vor allem die bezüglich der Distanz der Notenwerte noch viel eindrucksvolleren Takte 41-48 und 63-67 unerwähnt lässt, wird diese durchaus überzeugende These nur einem Teil des Eröffnungssatzes gerecht. Die Stellen, an denen auch der Chor in Achteln und Sechzehntel singt (Takte 17-20, 28-31, 38f., 50, 52, 56 und 68) und somit die kleinen Notenwerte des „his people“ repräsentierenden Orchesters übernimmt, machen sehr deutlich, dass hier nicht nur der in seiner Allmacht unerklärbare, erhabene und für Menschen letztlich unfassbare „Deus absconditus“ musikalische Gestalt gewinnt, sondern auch der liebende, sich in die winzigen, immer nur Ausschnitte erkennenden Dimensionen des Menschseins hinabbegebende väterliche Gott, der somit in sich selbst voll-kommene Ganzheit (ganze Noten der Takte 42ff.) und das Sich-Einlassen auf menschliche Partikularität (Achtel und Sechzehntel als ‚Partikel‘ der ganzen Noten) vereint. Dieses Gottesbild wird in den folgenden fünf Teilen des „Gloria“ weiter entfaltet:
Gott neigt sich zur Erde hinab, indem er über den „Menschen mit gutem Willen“ seinen Frieden ausbreitet. Die abwärts gebrochenen, sich gleichsam ‚hinunterbeugenden‘ h-moll-Dreiklänge sowie die sich flächig ‚ausbreitenden‘ Achtel- und Sechzehntelfiguren der Geigen in den Takten 1-9 des „Et in terra pax“ (Nr. 2) bil-den den Gott des Friedens geradezu tonmalerisch ab. In absoluter Konsequenz behalten die Violinen diese beiden Motive über den ganzen Satz hinweg bei, während die Bratschen und Bässe mit gleichmäßig pulsierenden Achteln den jeweiligen harmonischen Kontext festigen. Mit dem Einsatz des Chores wird das friedliche Bild durch Dissonanzen stellenweise empfindlich getrübt, da Vivaldi bei der Vertonung des Kernbegriffs „pax“ auffallend oft den Dominantseptnonenakkord verwendet (Takte 12, 16, 35, 43, 58, 72 und 75), dessen None so ‚dissonanzträchtig‘ wie ein Sekundvorhalt wirkt. Auf diese Weise wird spürbar, wie fragil und flüchtig Frieden sein kann, wenn er nicht durch den „guten Willen“ der Menschen Festigung und Bestätigung erfährt.

Die Teile 3-5 des „Gloria“ belegen eindrücklich, dass Vivaldi die große Bandbreite der kompositorischen Möglichkeiten vom „‘offizielle [-n]‘ stile antico“ (s. o.) bis zur ‚Moderne‘ der Jahre 1715-1725 virtuos beherrscht: Die Nr. 3 eine auf der Höhe ihrer Zeit stehende Konzertarie, deren Streicher-Ritornell nicht nur ein spieltechnisch anspruchsvolles Grundtempo (Allegro), sondern auch ein ausgesprochen hohes harmonisches Aktionstempo etabliert (vgl. besonders die Takte 7-17). Im Gegensatz zum Chor der Nr. 1 bilden die Sopran-Solistinnen ein ‚echtes‘ Concertino und musizieren bald allein mit dem Basso continuo (Takte 58-60, 95-99 und 103-108), bald einander abwechselnd (z. B. Takte 18-29), bald mit reduziertem Ripieno (z. B. Takte 89-92), bald sich mit dem kompletten Ripieno zu mitreißenden Tutti-Klängen vereinigend (z. B. Takte 30-36). Den ‚archaischen Gegenpol‘ zu dieser in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts ‚hochaktuellen‘ Musik bilden die blockhaft-homophonen, mit einem Halbschluss geradezu schulmäßig unterbrochenen Klangsäulen des „Gratias agimus tibi“ (Nr. 4), die in die mit einem retrospektiven 4/2-Takt notierte „Propter magnam gloriam“-Fuge (Nr. 5) münden. Jeder der fünf ersten Takte dieser Fuge exponiert in der Strenge des „stile antico“ genau einen Themeneinsatz, bevor Themenkoppelungen (Takt 6, 8 und 10) und Engführungen (Takt 12) das polyphone Geschehen verdichten. Aus hermeneutischer Sicht könnte Vivaldi folgende Gestaltungsabsicht verfolgt haben: Jeder noch so aktuelle Kompositionsstil wird irgendwann selbst zum „stile antico“, weil Musik wie die sie hervorbringenden Menschen der Endlichkeit und dem Wandel der Zeit unterliegt. Konstant bleibt jedoch der von Vivaldi in wechselnden Stilen dargestellte Gott, den der Komponist somit als Instanz der Unendlichkeit und überzeitlichkeit herausstellt. Komponisten und Kompositionsstile kommen und gehen, allein Gott „wird sein, der er sein wird“ (vgl. 2. Mose 3, 14).

Während die Sätze 3-5 somit eher der Idee des „Deus absconditus“ (s. o.: S. 8) verpflichtet zu sein scheinen, setzt das „Domine Deus“ (Nr. 6) wie schon das „Et in terra pax“ (Nr. 2) die christliche Urerfahrung in Klang um, dass Gott sich zu erkennen gibt, sich dem Menschen naht, ja sich sogar jedem Einzelnen schenkt, der „guten Willens“ ist und göttliche Nähe sucht. Solooboe, Solosopran und Basso continuo musizieren in kammermusikalischer Intimität eine fast schon überirdisch schöne Pastorale. Die ausdrucksstarken 12/8-Linien dieser unmittelbar zu Herzen gehenden ‚Hirtenmusik‘ leben von dem innigen Dialog zwischen Oboe und Sopranistin und beschwören gleichsam die ‚Dialogsituation‘ zwischen Gott und dem Beter des davidischen ‚Hirtenpsalms‘ 23 herauf: „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. [...]“ Der „pater omnipotens“ als liebender, sich jedem individuell zuwendender Hirte: Schöner hätte Vivaldi die Intimität zulassende, ja sogar suchende Größe Gottes kaum vertonen können.

Sohn

Mit dem „domine fili unigenite“ (Nr. 7) wendet sich das „Gloria“ dem Lob Jesu Christi zu. Das Stück ist doppelthematisch angelegt, wobei das Doppelthema zu Beginn gleich dreimal exponiert wird; zunächst orchestral in dem neuntaktigen Ritornell und anschließend jeweils einmal von den Stimmpaaren Alt/Bass (Takte 9-17) und Sopran/Tenor (Takte 18-26). Dass Vivaldi das Christuslob doppel–thematisch eröffnet, ist theologisch sehr stimmig, denn Vivaldi hat im Rahmen seiner Priesterausbildung mit Sicherheit den für das Christentum konstitutiven Begiff der „Doppelnatur Jesu“ als wahrer Menschensohn und als wahrer Gottessohn reflektiert. Das untere der beiden Themen wird in konsequenter Repetitions- und Sekundmelodik vom f zum F herabgeführt (vgl. die Bässe der Takte 1-9) und zeichnet gleichsam den Weg nach, den Jesus von „der Herrlichkeit, die [... er] bei [... seinem Vater] hatte“ (Johannes 17, 5), herab auf die Erde ging, um als „Kind [...] von Fleisch und Blut“ (vgl. Hebräer 2, 14) wahrer Menschensohn zu werden (vgl. auch Johannes 1, 14). Das obere der beiden Themen präsentiert sich gänzlich anders: Punktiert und fanfarenartig hell zieht es seine majestätische Bahn und scheint somit auf Jesus als wahren Gottessohn zu verweisen, dem als „König aller Könige und Herr aller Herren“ (1. Timotheus 6, 15; vgl. auch Offenbarung 17, 14) „alle Gewalt im Himmel und auf Erden [gegeben ist]“ (vgl. Matthäus 28, 18).

Die Abschnitte 8 und 9 bilden den Passionsteil des „Gloria“. In den fünf Einleitungstakten des Continuo-Basses sind bereits wesentliche Elemente des gesamten „Domine deus, agnus Dei“ angelegt. Der abwärts gebrochene, am Schluss ausfigurierte Dreiklang (Takt 1), die dreifache, abwärts sequenzierte Viertonfigur (Takte 2f.) sowie die über eine Duodezime abwärts gerichtete Sekundmelodik (Takte 3f.): Alle diese im Verlauf des Stückes vielfach aufgegriffenen (vgl. die Takte 7, 9, 10, 11, 15 etc.), nach unten gerichteten Motive zeichnen die Erniedrigung Christi in der Passion plastisch nach und erinnern an das bereits zitierte Christuslied des Philipperbriefes (s. o.: S. 2): „Er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja bis zum Tode am Kreuz.“ (Philipper 2, 8) Der responsorienartige Wechsel zwischen Alt und Chortutti bildet zum einen die gottesdienstliche Praxis ab, in der die Gemeinde kollektiv auf die Predigt bzw. die Segnung vom Altar antwortet; zum anderen lässt die Gravität des Chortutti gerade bei der vierfachen Vertonung der Worte „qui tollis peccata mundi“ (Takte 12f., 16, 18f. und 23f.) erahnen, wie erdrückend schwer die Last der „peccata mundi“, also der Sünden aller Menschen war, die Jesus als Lamm Gottes trug.

Die wuchtigen homophonen Klangblöcke zu Beginn des „Qui tollis peccata mundi“ (Nr. 9) erinnern an die Kompositionstechnik des „Gratias agimus tibi“ (Nr. 4; s. o.), erfahren aber eine gänzlich andere Fortsetzung. Nicht eine dicht gearbeitete Fuge schließt sich an, sondern eine proportio tripla, die sui generis das Tempo enorm vitalisiert und mit einem strahlenden E-Dur-Akkord ausklingt. Hier gewinnt nach der Passion der österliche, ins Leben zurückgekehrte und schließlich zum Himmel aufgefahrene Christus Gestalt, um dessen Erbarmen das „Qui sedes ad dexteram patris“ (Nr. 10) bittet. Diese virtuose Alt-Arie schlägt nicht nur wegen ihrer Tonart (h-moll) eine Brücke zum „Et in terra pax“ (Nr. 2), sondern auch wegen ihrer literarischen und musikalischen Aussagekraft. Während es in Nr. 2 um den Vater ging, der sich zur Erde herabneigt und „Menschen guten Willens“ Seinen Frieden schenkt (s. o.), steht nunmehr der Sohn im Mittelpunkt, der sich ebenfalls (wie bei der symbolträchtigen Fußwaschung, vgl. Johannes 13) zu jedem Einzelnen niederbeugt und „Mitleid“ empfindet (vgl. Hebräer 4, 15). Der abwärts gebrochene h-moll-Dreiklang der Nr. 2 steht in figurierter Form auch am Beginn der Nr. 10 (Takte 1-3), das synkopierte Motiv der Takte 8 und 9 erscheint dreimal und wird dabei nach unten sequenziert (Takte 8-13), am Schluss des Ritornells erklingen h-moll-Skalenausschnitte, die die ‚tiefe‘ finalis h stringent ansteuern. Im Laufe der Arie variieren Solistin und Streicher diese musikalischen Gesten des Sich-Niederbeugens in vielfältiger Form und fügen einen für das Mitleid Jesu überaus wichtigen Aspekt hinzu: Der flehende Imperativ des „miserere“ wird an etlichen Stellen melismatisch auf bis zu 14(!) Takte ausgeweitet (Takte 38-51, 71-78, 85-91 und 106-113). Diese schier unendlich langen und gesangstechnisch anspruchsvollen Koloraturen lassen auf exegetischer Ebene die Langmut und das Verständnis Jesu erahnen, der mit seiner Gemeinde leidet, „Geduld mit [... allen hat] und [... nicht will], dass jemand verloren werde, sondern dass jedermann zur Buße finde“ (vgl. 2. Petrus 3, 9). Zugleich schimmert in dieser Vivaldischen Gebetsvertonung eine zentrale ‚Anforderung‘ auf, die das Evangelium an die Gebete der Gläubigen stellt; ob im Gleichnis von der bittenden Witwe (vgl. Lukas 18, 1-8) oder im Lob der ersten Christen laut Apostelgeschichte 2, 42 („Sie blieben aber beständig [...] im Gebet.“) oder in der Bitte des Apostels Paulus laut Römer 12,12 („Seid [...] beharrlich im Gebet.“): überall wird deutlich, dass Gebete einen ‚langen Atem‘ brauchen (wie im wörtlichen Sinn die Solistin der Arie!) und nicht frustriert eingestellt werden sollen, wenn die Bitten des Gebets scheinbar ungehört verhallen.

Der letzte Christus-Abschnitt des „Gloria“ (Nr. 11, „Quoniam tu solus sanctus“) zitiert den Beginn des Werkes. Durch diese „Wiederaufnahme von Themenmaterial des Anfangs [... erfährt die Komposition weitaus mehr als ‚nur‘] eine zyklische Rundung“ (vgl. Bögel: a. a. O., S. IV). Auch die theologische Botschaft des „Gloria“ gewinnt an Tiefe: Alle musikalischen Attributierungen des Vaters (s. o.) lassen sich auf den Sohn übertragen. Auf einer Stufe mit dem Vater stehend („Wer mich sieht, der sieht den Vater!“ Johannes 14, 9), entzieht er sich als ‚filius absconditus‘ der begrenzten Wahrnehmungsfähigkeit des menschlichen Geistes und sucht doch als Heiland die Nähe des Menschen („Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken.“ Matthäus 11, 28). Vivaldi hat sich spätestens in der Priesterausbildung mit den zentralen Selbstoffenbarungen Jesu Christi und damit auch mit dem johanneischen „Ich und der Vater sind eins“ (Johannes 10, 30) beschäftigt. Das Einssein von Vater und Sohn findet sein ‚kompositorisches Pendant‘ in der Motiv- und Tongleichheit der Sätze 1 und 11 des „Gloria“.

Heiliger Geist

Der Heilige Geist tritt in der ‚öffentlichen Wahrnehmung‘ manchmal ein wenig hinter Vater und Sohn zurück. Obwohl die Heilige Schrift ein klares Zeugnis davon ablegt, dass die Spendung der Gabe des Geistes durch Gebet und Handauflegung eines Apostels unverzichtbar ist (vgl. Apostelgeschichte 8, 4-17), genießt der Geist nicht immer die ihm angemessene Beachtung. Die Bedeutung von Gott, dem Vater, ist unbestritten. Der Sohn gibt dem Vater gleichsam ein ‚Gesicht‘ („Wer mich sieht, der sieht den Vater!“ [s. o.]) und macht ihn für Menschen vorstellbarer, wahrnehmbarer und ‚greifbarer‘; aber der Geist ist vielfach eher indirekt erkennbar über „Liebe, Freude, Friede, Geduld [etc.]“ als die „Frucht [...] des Geistes“ bei Menschen, die ihn wirken lassen (vgl. Galater 5, 22). Wie hat Vivaldi diesen gewiss ‚latentesten‘ Teil der Gottheit im „Gloria“ gewürdigt?

Auf den ersten Blick scheint der Geist in der Musik des „Gloria“ (wie auch im Text!) unterrepräsentiert zu sein. Erst im Schlussvers tritt er hinzu, und so kann es nicht verwundern, dass Vater und Sohn mit 6 bzw. 5 „Gloria“-Abschnitten besungen werden, der Geist hingegen nur mit einem einzigen. Dieser ‚numerische Befund‘ spiegelt jedoch nicht die Realität der tiefsinnigen Musik Vivaldis wider, die weit davon entfernt ist, den Geist zu einem ‚Anhängsel‘, zu einer ‚Schlussbeigabe‘ verkümmern zu lassen. Obwohl in den „Gloria“-Sätzen 7-11 expressis verbis ‚nur‘ Sohn und Vater im Mittelpunkt stehen, ist der Geist seinem Wesen gemäß latent (s. o.) zugegen, so dass die Dreifaltigkeit längst vollendet ist, bevor sie im Abschnitt 12 ‚offiziell‘ beim Namen genannt und musikalisch äußerst wirkungsvoll glorifiziert wird:
Dreimal wird das Doppelthema des „eingeborenen Sohnes“ (Nr. 7) exponiert (s. o.), dreimal erklingt das abwärts sequenzierte Viertonmotiv der Passion (s. o.), die proportio tripla ist es, die Ostern und damit das Zusammenwirken aller drei Hypostasen bei der Auferstehung Jesu hörbar macht (s.o.), dreimal erscheint das Synkopenmotiv im Ritornell der ‚Gebetsarie‘ Nr. 10 (s. o.). Mit einem Wort: Bei der Geburt Jesu, in seiner Passion, im Ostergeschehen, ja sogar in jedem Gebet ist der Geist bei Vivaldi musikalisch präsent (vgl. Römer 8, 26: „Denn wir wissen nicht, was wir beten sollen, wie sich’s gebührt; sondern der Geist selbst vertritt uns mit unaussprechlichem Seufzen.“

Mit dem Abschnitt 12 tritt der Geist gleichsam ‚aus dem Verborgenen‘ ins Licht und verleiht dem „Gloria“ einen fulminanten Abschluss. Als sprichwörtlicher „Dritter im Bunde“ wird er wie der Vater (Nr. 1) und der Sohn (Nr. 11) schon allein durch die Instrumentierung hervorgehoben, indem Trompete und Oboe den Klang der Streicher wirkungsvoll verstärken. Das in Viertelnoten, halben Noten und ganzen Noten majestätisch ausschwingende Fugenthema erfährt eine inspirierende Ergänzung durch zwei obligate Kontrapunkte: die auftaktige, energisch vorwärtsdrängende Gegenstimme, die der Alt in den Takten 2ff. erstmals erklingen lässt, sowie das meist in halben Noten und ganzen Noten gehaltene „Amen“, welches durch überbindungen und auf der Zählzeit 2 beginnende ganze Noten sehr häufig synkopiert wird. Durch wechselnde Instrumentierung, variative Stimmkombinationen und kunstvolle Engführungen erscheinen diese drei kraftvollen Themenquellen immer wieder in einem neuen Licht und werden damit zu einem musikalischen Abbild der Dreifaltigkeit, die sich in ihrer vielfältigen ‚Leuchtkraft‘ nie verbraucht, dem Gläubigen immer wieder neue Erkenntnisse zu erschließen vermag und schließlich in der Ersten Auferstehung (vgl. Offenbarung 20, 6) an jedem Einzelnen eine ungeahnte Verwandlungskraft entfalten wird:
„Wenn nun der Geist dessen, der Jesus von den Toten auferweckt hat, in euch wohnt, so wird er, der Christus von den Toten auferweckt hat, auch eure sterb-lichen Leiber lebendig machen durch seinen Geist, der in euch wohnt.“ (Römer 8, 11)
„Siehe, ich sage euch ein Geheimnis: Wir werden nicht alle entschlafen, wir werden aber alle verwandelt werden; und das plötzlich, in einem Augenblick, zur Zeit der letzten Posaune. Denn es wird die Posaune erschallen und die Toten werden auferstehen unverweslich, und wir werden verwandelt werden. Denn dies Verwesliche muss anziehen die Unverweslichkeit, und dies Sterbliche muss anziehen die Unsterblichkeit.“ (1. Korinther 15, 51-53)

Programm 2017:

  1. Felicitas Kukuck (1914-2001): Ich singe dir mit Herz und Mund
  2. Michael Praetorius (1571-1621): Du bist der große Treue
  3. Arno Semrau (geb. 1962): Ich rühme froh die große Gnad
  4. Joseph Haydn (1732-1809): Gelobet sei der Nam' des Herrn
  5. Johann Sebastian Bach (1685-1750): Herr, dir sei Dank
  6. Peter Metzger (geb. 1934): Wie soll ich deine Güte preisen
  7. Johann Sebastian Bach (1685-1750): Lobe den Herren
  8. Gerhard Schnitter (geb. 1939): Singt ein Lied von Gott
  9. Joseph Haydn (1732-1809): Symphonie Nr. 30 in C-Dur, "Alleluja" (Hob. I:30)
  10. Antonio Vivaldi (1678-1741): Gloria in D-Dur (RV 589)